Ein Quantensprung kommt selten allein
- Ernst Macher
- 12. Sept.
- 5 Min. Lesezeit

„Freude, schöner Götterfunken,
Töchter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum“
tönte es durch das Büro der DigITellers, als Harrer endlich das Weite gesucht hatte. Ogris hatte mit harten Bandagen gekämpft und gewonnen – und dafür zollte ihm die ganze Belegschaft tiefen Respekt. Ein Pyrrhussieg war es dennoch gewesen. Sechshundertzehn offene Tickets und Reklamationen hatten sich in den letzten drei Monaten angesammelt, und Ogris wurde klar, dass das Schlamassel diesmal nur mit ausgefeilter Automatisierungssoftware beendet werden konnte. Sehr bald fokussierte sich der Supportcenterleiter daher auf die Entwicklung KI-gestützter Chatbots und modernster Textanalyse-Software. Erste Erfolge stellten sich nach einer Woche ein. Nach zwei weiteren Wochen waren bereits alle Altlasten abgearbeitet, und schließlich widerriefen sogar fünf Kunden ihre kürzlich vorgenommenen Vertragskündigungen. Hoppenstett atmete erleichtert auf. Der Wiener Supportcenterleiter hatte es tatsächlich geschafft, die marode Wiener Niederlassung wieder auf Vordermann zu bringen. Nur bei Ogris selbst hatte die jüngste Feuerlöschaktion Spuren hinterlassen. Er erkannte, dass die Arbeitsmethoden der DigITellers schon viel zu lange altbacken gewesen waren und automatisierte daher alles, was nicht niet- und nagelfest war. Das hatte weitreichende Konsequenzen: Erstmals brauchten ihn seine Kollegen im Supportcenter nicht mehr bei jeder Kleinigkeit, Ogris selbst ereilte allerdings das schlimmste Schicksal, das einen Vollblutnerd ereilen kann: Ihm wurde langweilig. Nickerchen im Serverraum waren bald keine Seltenheit mehr, und als ihn eines Tages sogar sein geliebter Ludwig van Beethoven langweilte, wusste er, dass es so nicht weitergehen konnte. Er brauchte definitiv eine neue Herausforderung. Nach Wochen verzweifelter Suche fiel es ihm schließlich aber wie Schuppen von den Augen. Das Thema „Quantencomputer für den Heimgebrauch“ war für ihn nicht nur eine nette Ablenkung, sondern seine Passion, sein nächster Karriereschritt, seine Zukunft. Von diesem Zeitpunkt an ging alles sehr schnell. Genau zwei Monate nach Harrers Ausscheiden beantragte Ogris eine Auszeit von seinem Supportcenterjob. Ein ganzes Quartal wolle er sich nur mit quantenphysikalischen Problemen und deren praktischen Anwendungsbereichen auseinandersetzen, erklärte er dem verblüfften Hoppenstett, dem letztlich nichts anderes übrigblieb, als seine Bildungsauszeit zu genehmigen.
Tatsächlich lebte, liebte und verinnerlichte Ogris das Thema „Quantenphysik & Quantencomputer“ in jeder Sekunde seines dreimonatigen Sabbaticals. Unmittelbar nach dem Frühstück zog er sich üblicherweise in seine von Rauchschwaden durchdrungene Kellerstube zurück und verließ diese erst zum Abendessen. Konkrete Ergebnisse ließen anfangs noch auf sich warten. Die Lektüre spekulativer Klassiker wie „Die neue Physik der Paralleluniversen“ und „Schrödingers Katze in Theorie und Praxis“ begeisterten ihn aber so sehr, dass erste praktische Versuchsanordnungen bald Gestalt annahmen. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang Ogris‘ langjähriger Heurigenfreund Quester, der von Beruf Labortechniker war. Dieser hatte Ogris bereits vor dem Sabbatical einige Laborgeräte zukommen lassen, die für quantenphysikalische Forschungen unentbehrlich waren. Vor allem ein Spezialgerät namens „Kryostat“ war in diesem Zusammenhang von enormer Wichtigkeit. In dem kühlschrankartigen Ding herrschten Temperaturen von minus 250 Grad Celsius, und diese ermöglichten es, Infrarot-Detektoren zu kühlen, Supraleiter zu testen oder Ionen in Quantencomputern energetisch stabil zu halten.
Zerstreuung suchte Ogris während seiner dreimonatigen Auszeit eigentlich nur in einem neuen Hobby, dem Morsen. Dieses praktizierte er mit einem altertümlichen, aber voll funktionsfähigen Morsegerät, das er einige Monate zuvor auf einem Flohmarkt erstanden hatte und welches ihn über alle Maßen begeisterte.
„Morsen ist für einen Entwickler das, was Hieroglyphen für einen Ägyptologen sind. Punkt (.) und Strich (-) sind alles, was du brauchst, um loszulegen. Ein Punkt ist ein ‚Dit‘. Ein Strich ist ein ‚Dah‘. Ein ‚Dah‘ hat die Länge von drei ‚Dit‘“, erklärte er jedem, ob er es wissen wollte oder nicht.
Die meisten, inklusive Monika, wollten es nicht wissen. Und vielleicht war das auch der Grund, warum Ogris kein Interesse daran hatte, eine seltsame Morsebotschaft, die ihn eines Abends in seinem Keller erreichte, irgendjemandem zu zeigen.
„Wissen ist nichts als Wahnsinn, wenn es aus der Zeit gefallen ist“ dechiffrierte er die mit dem alten Morsegerät erhaltenen Zeichen. Diese waren eindeutig, ergaben aber beim besten Willen keinen Sinn.
Monikas resolutes „Mach dich endlich für den Besuch fertig! Die Questers kommen in fünfzehn Minuten!!!“ machte ein weiteres Sinnieren aber ohnehin obsolet. Dreimal hatte sie ihren Mann schon aufgefordert, duschen zu gehen. Dreimal hatte dieser nicht reagiert. So tat sie schließlich das, was sie mittlerweile jeden Abend tat: Sie betätigte den Elektrizitätskippschalter im Erdgeschoß. Im Keller wurde es daraufhin zappenduster, und das darauf erklingende „Oida“ signalisierte ihr, dass ihr Keller-Nerd verstanden hatte. Von diesem Zeitpunkt an folgte alles üblicherweise einem simplen Schema. Ogris knallte die Duschkabine hinter sich zu, murmelte ein indigniertes „Immer dieser Terror!“ und schlüpfte dann in seinen brandneuen Lieblingssweater mit der Aufschrift ‚Where the f### is Schrödinger‘s Cat?‘ - eine Referenz an den Mathematiker Erwin Schrödinger und dessen quantenphysikalisches Gedankenexperiment „Schrödingers Katze“.
„Wer kommt heute eigentlich zu Besuch?“, fragte er, nachdem er zwei Minuten später aus der Dusche gestiegen war.
„Die Questers. Der Langweiler kommt heute mit seiner Frau“, antwortete Monika. „Vielleicht bleiben mir dann diese ewigen Computergespräche erspart.“
„Der Quester ist verheiratet?“
„Ja, ist er“, seufzte Monika. „Dass du nicht einmal das weißt, spricht Bände. Über was redet ihr eigentlich, wenn ihr beim Heurigen seid?“
„Also das letzte Mal ging‘s um die Verschränkung und die Superposition dieser Qubits. Es ist nämlich so, dass …“
„…ist schon gut! So genau muss ich es nicht wissen. Dass du nichts über seine Frau weißt, wundert mich so gesehen überhaupt nicht. Jedenfalls ist sie mir letzte Woche in der Stadt über den Weg gelaufen – das heißt sie hat mich angesprochen. Etwas hyperaktiv wirkt sie, aber nicht unsympathisch.“
„Und dann?“
„Na ja, sie hat mich gefragt, ob sie beim nächsten Treffen mitkommen kann. Natürlich hab ich ja gesagt.“
„Und warum?“
„Vielleicht weil mich Quibs so interessieren wie das Liebesleben der Geissens?“
„Qubits“, korrigierte Ogris.
„ … jedenfalls hat sie mir auf der Stelle ihr halbes Leben erzählt. Hast du gewusst, dass sie früher Musicaldarstellerin war?“
„Wie denn? Ich hab ja nicht mal gewusst, dass der Quester eine Frau hat“, antwortete Ogris, der sich mittlerweile frisiert und fertig angezogen hatte.
„Und was macht die?“
„Sie arbeitet angeblich als Energetikerin.“
„Was ist eine Energetikerin?“
„Eine Energetikerin harmonisiert die körpereigenen Chakren, optimiert die Lebensenergie und bringt Körper und Geist in Einklang mit dem Universum“, antwortete Monika.
„Ich verstehe kein Wort.“
Genau in diesem Moment läutete es.
Ogris ging zur Haustür und öffnete diese. Was er sah, war eine regelrechte Naturerscheinung.
„Ich bin die Elli“, sagte die Naturerscheinung und verewigte sich mit ihrem Lippenstift auf Ogris‘ linker und dann auf Monikas rechter Backe. Ein knallrotes Kleid, pechschwarzes, glänzendes Haar und dickes Make-up trug die ehemalige Musicaldarstellerin, neben der der unscheinbare Quester wie ein um seine Schultüte besorgter Erstklässler wirkte.
„Ich bin die Monika“, entgegnete Monika, küsste lippenstiftlos beide Questers und führte diese dann ins Wohnzimmer.
Es ist bisweilen schwer zu sagen, warum Menschen miteinander harmonieren oder nicht. Fest steht, dass sich das Treffen der Ehepaare Ogris und Quester nicht zufriedenstellend entwickelte. Ellis Anekdoten über Schlagerpersönlichkeiten, Reality-TV-Stars und missglückte Schönheitsoperationen bekannter C-Prominenter stießen weder bei Quantenphysik-Aficionado Ogris noch bei Labortechniker Quester auf Interesse. Bei der Frage, ob die Geissens das Herz am rechten Fleck hätten oder nicht, warf schließlich auch Monika das Handtuch. Nicht einmal das Thema Astrologie brachte den erhofften Umschwung. Ellis Überzeugung, dass Menschen mit einer starken Venus-Betonung attraktiv, Saturngeprägte hingegen knöchrig und langweilig wären, zweifelte Quester massiv an.
„Ich bin nicht sicher, ob man auf einem 500 Grad heißen Planeten, auf dem Stürme toben, viel Schönes findet“, ätzte er und meinte, dass Astrologie mit Wissenschaft so viel zu tun hätte wie Kaffeesudlesen mit statistischen Prognosen. Das veranlasste Elli wiederum zur Behauptung, dass ihr Mann den Weitblick einer Laborratte hätte und sie es sich nie verzeihen würde, ihre Musicalkarriere für einen wie ihn aufgegeben zu haben. Das saß. Erst beim Thema Energie gab es schließlich Licht am Ende des Thementunnels.
„Quantenphysikalisch ist es dennoch so, dass …“, startete sie einen letzten Versuch, und an dieser Stelle mischte sich erstmals auch Ogris in die Diskussion ein.
„Du kennst dich mit Quantenphysik aus?“, fragte dieser höchst interessiert.
„Ja natürlich! Auf TikTok gibt es dazu hunderte Beiträge! Quantenheilung ist die Medizin der Zukunft. Vom Kopfweh bis zum verstauchten Zeh – es gibt nichts, was die Quanten nicht können. Ist alles von der Psyche bewiesen!“
„Du meinst von der Physik?“
„Ja, die natürlich auch!“


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